Freitag, 7. März 2008
Sie brachten den Frieden
Ich rannte durch die kleinen Gässchen unseres Viertels. Ich rannte und rannte so schnell ich konnte, ich durfte einfach nicht zu spät kommen. Der kalte Wind peitsche mir ins Gesicht und meine Augen fingen an zu tränen, aber ich durfte einfach nicht zu spät kommen. Endlich kam ich bei unserem Haus an, schon draußen konnte ich gedämpft verschiedene Stimmen hören, die sich eifrig unterhielten: ich war zu spät. Ich nahm einmal tief Luft und öffnete die Tür.

Da saßen sie alle. Die ganze Verwandtschaft war aus allen Teilen des Landes zu Besuch und trank gerade Tee zusammen. Höflich verbeugte ich mich und begrüßte meine Onkel und Tanten so wie es die Sitte verlangte. Ich ließ mir nichts anmerken, aber in mir stieg dieses panische Gefühl auf, denn alle Plätze waren besetzt, bis auf... „Aito-chan, du kannst dich neben deinen Onkel Sikora setzen.“ Ich blickte schluckend auf meinen Onkel aus Hiroshima. Schon vor dem Öffnen der Tür war mir klar gewesen, dass nur dieser Platz frei sein konnte.
Mein Onkel hatte ein absolut entstelltes Gesicht, die Haut schien in Fetzen herabzuhängen und ich hatte immer Angst, dass sie gleich abfallen würde. Außerdem hatte er einen übelriechenden Körpergeruch, der mir sofort meinen Mageninhalt in den Mund trieb. Ich lächelte meine Mutter an und setzte mich artig neben meinen Onkel. Er blickte mir in die Augen und sagte irgendetwas zu mir, was ich nicht verstehen konnte. Ich denke er hatte das freundlich gemeint, mir jedoch kam es vor, als spreche eine wiederauferstandene, halbverweste Leiche zu mir. Ich erwiderte diese Geste mit einem Lächeln. Der Schweiß floss in Strömen meinen Rücken hinab. Es kostete wahnsinnig viel Kraft, nicht einfach aufzustehen und weit wegzurennen.
Um mich abzulenken versuchte ich das Gespräch meiner Gegenüber aufzuschnappen, um mich vielleicht einmischen zu können. Aber mein Onkel tippte mir auf die Schulter und deutete auf seine leere Tasse. Ich schenkte ihm sofort Tee ein und wollte mich erneut von ihm abwenden, als er zu mir in absolut klarer Sprache sagte: „Komm näher mein Kind, ich will dir etwas erzählen.“ Im ersten Moment war ich zu irritiert um etwas anderes zu tun, als ihn anzustarren. Ich fragte mich, warum er plötzlich so klar und verständlich sprach. Ich rückte näher, aber nicht zu nahe. Ich merkte wie der Geruch des Todes immer intensiver wurde. Mir wurde schlecht, aber tapfer blickte ich ihm in die Augen und lauschte seinen Worten. „Ich kann sehen, dass ich auf dich abschreckend erscheine. Ich bin nicht mehr ich, das sehe ich jeden Tag selbst im Spiegel. Angewidert wende ich mich dann wieder ab, träume von alten Zeiten, in denen alles noch in Ordnung war. Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber ich war einmal ein genauso stattlicher Mann wie dein älterer Bruder. Bis die Amerikaner kamen und ihre Engel des Todes auf unsere Stadt schickten. Das war an einem wundervollen, heißen Sommertag. Und es war mein erster freier Tag seit langem. Im Krieg arbeitete ich in einer Fabrik, welche Patronenhülsen herstellte. Im Krieg musste jeder etwas für das Wohl des Staates tun. Aber an diesem Tag hatte ich frei und blieb zu Hause. Ein prächtiges Haus ein paar Kilometer vom Stadtkern entfernt. Meine Frau hatte leider nicht frei.“ Sikora schluckte tief und ich fühlte, dass er litt. Ich fragte mich, warum er mir das erzählte, hörte ihm aber weiterhin zu.
„Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte, kniete ich einfach nur in unserem Garten und lauschte den Vögeln. Sie sangen wunderbar und seit langem fühlte ich mich wieder frei. Ich atmete tief den Duft der Blumen ein, ich beobachtete vergnügt das Schauspiel der zwei Eichhörnchen, die sich von Baum zu Baum hüpfend um eine Nuss stritten. Mal hatte das eine Hörnchen die Nuss, bis das andere wutentbrannt auf es draufsprang und ihm die Nuss stibitzte. Dann hörte ich es, wieder einmal der Lärm eines Flugzeuges. Sie waren in den letzten Tagen häufiger da gewesen. Ich ging ins Haus, um zu hören, was das Radio zu sagen hatte. Ich wollte es gerade einschalten, als ich einen heftigen Knall hörte. Das letzte was ich sah, war eine grelle Lichterscheinung, dann warf ich mich eine Druckwelle zu Boden und ich spürte, wie eine ungeheure Hitze die Kleidung in meine Haut brannte. Das war das Schlimmste, was ich jemals erlebt hatte. Als ich nach einiger Zeit aufblickte, konnte ich durch das Fenster eine riesige Wolke erkennen, so ungeheuer riesig das ich das Ende im Himmel nicht sehen konnte. Eine Wolke so schwarz wie die Nacht. Es war schrecklich. Ich richtete mich auf, um das Radio einzuschalten, doch ich konnte nichts hören, außer einem Knistern. Alles tat mir weh. Ich hörte Geschrei draußen auf den Straßen, der Geschrei ungeheuren Schmerzes. Geschrei so grell, das es mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich stand da wie gelähmt, wusste nicht, was zu tun war. Ich blickte panisch umher. Was war nur geschehen? Ich konnte es mir nicht erklären. Als ich hinaus auf die Straßen blickte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Kind starrte mich an, sah mir direkt in die Augen. Der Anblick war grauenhaft. Die Haut, sie schien sich zu einem Brei verwandelt zu haben, sie hing jetzt lose herab. Ich konnte an manchen Stellen das rosa Fleisch und die Knochen erkennen. Durch die Finsternis, die sich über die Stadt gelegt hatte und kein Sonnenlicht mehr auf die Erde hinab ließ, kamen mehr Menschen.“
Er machte eine kurze Pause und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt merkte ich, dass ich wieder ich selbst war. Die ganze Zeit schien es mir, als blickte ich selbst über die Trümmer der Stadt und über all das Elend. Schon lange hatte ich meinen Ekel vergessen und lauschte gebannt seinen Worten „Aus dem Schatten der Stadt kamen mehr Menschen. Auch sie sahen einfach nur grauenhaft aus. Manchen waren die Augen so geschwollen, dass sie nichts mehr sahen und sich an andere Menschen festkrallten, um nicht verloren zu gehen. Sie flehten, sie schluchzten und sie weinten. Ich kann das ganze Elend nicht beschreiben, da es zu schrecklich ist. Ich bekomme heute noch manchmal Alpträume, in denen ich diese jämmerlichen Gestalten sehe, die sich mir nähern und ihre Augen sind so leer, eine Leere, die jeden in einer ungeheure Trauer versetzt. Ich wache auf, schweißgebadet und merke, dass meine Augen feucht sind.. Ich konnte ihren Anblick nicht ertragen. Sie kamen in mein Haus und ich versuchte sie so gut wie möglich zu versorgen. Ich reinigte ihre Wunden, aus denen dicker, gelblicher Eiter quoll und ich versuchte ihnen Mut zuzusprechen. Als ich mir endlich eine kleine Pause gönnen konnte, dachte ich an meine Frau, die in einem Krankenhaus in der Innenstadt arbeitete. Ich wusste, dass sie tot war.“
Tränen quollen langsam seine Wangen herab und auch ich merkte, wie ich langsam mit den Tränen kämpfte. So etwas grausames hatte ich noch nie gehört. „Ich wusste, dass sie das nicht überleben hatte können. Ich fühlte mich so einsam, eine schwarze Trauer nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hasste diese Momente, in denen ich mich nicht in die Arbeit stürzen konnte, in denen ich nicht der anderen Leid lindern konnte, um das meine zu vergessen. Noch viele Monate versorgte ich die Kranken in meinem Haus. Ein übler Geruch hatte sich festgesetzt, der Tod schien zu Besuch. Ich erlebte viele Tode mit, ich war wie paralysiert. Kleine Jungen und Mädchen, die wimmernd und kämpfend versuchten zu atmen, bis auch bei ihnen die Kraft nachließ und sie der Tod umarmte.
Am 15. August erklärte der Tenno, unser Kaiser, die bedingungslose Kapitulation im Radio. Und auch hörte ich, dass das Schicksal unserer Stadt auch noch Nagasaki heimgesucht hatte. Diese Bomben der Amerikaner hatten den Krieg beendet. Der Krieg war beendet, aber auf welche Weise! Ich kann bis heute nicht verstehen, wie jemand solch grässliche Waffen einsetzen konnte. Die Amerikaner hatten Frieden durch Gewalt gebracht. Ist das die richtige Lösung? Sie haben hunderttausende von Zivilisten getötet und Familien zerstört. Und auch an mir kann man die Folgen der Bombe erkennen. Schau mich an! Ich bin ein Monster ein Wrack, ein Schatten meiner selbst, wir werden abfällig Hibakusha genannt und keiner will etwas mit uns zu tun haben.“ Seine melancholische Stimmung war in Wut umgekehrt. „Deine Mutter ist die einzige, die mich nicht vergisst und die mich noch einlädt. Diese Treffen hier sind die einzigen Lichblicke in meinem tristen Leben. Denn seitdem meine Frau aufgehört hat zu sein, fühle auch ich, dass ich innerlich aufgefressen bin und mein Körper einfach nur noch funktioniert.“ Er hatte seine Geschichte beendet.
Eine Stille hatte sich über den Raum gelegt und jeder starrte Sakura-san an. Einige hatten bei seinen letzten Worten beschämt auf den Boden geblickt. Und ich kann bis heute dieses unglaubliche Verbrechen nicht verstehen.

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Montag, 4. Februar 2008
Der faule Geselle
Meine Konzentration schwindet und ich blicke aus dem Fenster. Gedankenverloren starre ich einfach in die Ferne. Es regnet und die Wellen peitschen gegen den Strand. Ein Mann, der seinen Hund ausführt, kämpft gegen den Sturm an, der ihn immer wieder zurückdrängt. Dem Hund scheint das Wetter nichts auszumachen, er tollt auch weiterhin durch die Dünen. Der Mann tut mir leid, trotzdem würde ich nicht mit ihm tauschen wollen, ich sitze lieber hier im Trockenen und Warmen. Auch wenn ich eigentlich arbeiten sollte, ich kann es nicht. Zu müde bin ich und zu sehr in den Bann gezogen von diesem Mann im Unwetter, dessen gelbe Regenjacke ein bunter Farbklecks in dieser trostlosen Welt ist. Die Wolken ziehen sich weiter zu, es wird noch dunkler und die See noch rauer. Der Hund ist verschwunden und der Mann stehen geblieben. Er blickt sich um, seinen Blick kann ich in der Ferne nicht erkennen. Wahrscheinlich hat er Angst, ist verzweifelt. Oder er ist wütend auf den Hund, wegen dem er in dieses Unwetter musste und der ihn jetzt zwingt noch länger darin auszuharren. Aber wahrscheinlich ist er eher besorgt. Der Hund ist sein bester Freund, nie könnte er böse sein auf diesen. Oder doch? Ich bin mir unsicher, kenne den Mann nicht und kann ihn so auch nicht einschätzen. Auch die gelbe Regenjacke gibt mir keinen Aufschluss über seinen Charakter. Außer vielleicht, dass er ein sehr positiver Mensch sein musste, wenn er so eine helle Farbe trug. Oder hatte er sich einfach irgendeine Jacke gegriffen und diese war zufällig gelb gewesen? Nein, das wäre ihm peinlich gewesen und er hätte sie zurückgelegt. Das hier musste ein positiver Mensch sein, der mit einem Lächeln durch die Welt ging. Dieses Lächeln jedoch dürfte keinen Lichtschein auf die Umgebung des Mannes werfen, da dies nun absolut unpassend wäre. Ich suche nun selbst die Umgebung nach einem hin- und herflitzenden Wollknäuel ab, werde jedoch nicht fündig. Langsam mache ich mir selbst Sorgen. Der arme Mann rennt ziellos über den Strand, etwas suchend, was so aussichtslos zu finden scheint. Bei diesem immer stärker zunehmenden Regen kann er ihn einfach nicht finden. Vielleicht ist er schon in den Wellen ertrunken? Nein, das glaube ich nicht. Auch wenn Katzen die intelligenteren Tiere sind, auch Hunde sind nicht völlig verblödet. Sie tun zwar wirklich alles, was man ihnen beibringt, aber fahrlässig in Todesgefahr begeben sie sich nicht. Und so kann ich mir nicht vorstellen, dass der Hund in die Nähe des tosenden Meeres gegangen war.
Mein Blick fällt auf die Teekanne, die neben meinem Monitor steht, der Beutel musste nun gut gezogen sein. Ich schenke mir den Tee in eine Tasse und gebe Milch und Zucker dazu. Der würzige Duft der Pfefferminze zieht mir in die Nase und für einen kurzen Moment schließe ich die Augen, um einfach nur zu genießen. Dann nehme ich den ersten Schluck und fühle diese behagliche Wärme in meinem Körper aufsteigen. Ach, wie ist es schön, hier drinnen zu sein. Mein Blick fällt wieder nach draußen und sofort nagt das schlechte Gewissen an mir. Ich sitze hier drinnen wohlbehütet und warm, während sich dort draußen ein armer Mann durch das Unwetter quält und seinen Hund sucht, der vielleicht sein einziger Freund war und ohne den er vielleicht in tiefe Depressionen fallen würde. Vielleicht ist es aber auch der Hund seiner Tochter, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte und über den sie so gestrahlt hatte. Käme er nun ohne diesen wieder nach Hause, würde sie wohlmöglich sehr traurig sein und der Mann konnte es nicht ertragen seine Tochter weinen zu sehen. Bei diesen Gedanken will ich schon aufstehen, mir meine Jacke überziehen, die Gummistiefel anziehen und mich auf den Weg machen, um ihm zu helfen. Aber dann blicke ich auf meine Teetasse, über der sich leichte Wasserdampfwolken kräuseln und dann hinaus aufs tobende Meer und auf die unzähligen Wassertropfen, die vom Himmel herabfielen. Ich bleibe einfach sitzen, weiterhin den armen Mann beobachtend. Ich fühle mich nicht gut dabei, aber hier ist es einfach zu behaglich.
Da! Nun sehe ich etwas schwarzes genau vor meinem Haus umherrennen, das muss ein Hund sein. Der Mann sieht ihn aber nicht und irrt weiter hinten am Strand umher. Sollte ich ihm mitteilen, dass der Hund hier war? Sollte ich ihm die Richtung zeigen? Aber dazu müsste ich das Fenster öffnen und die ganze Kälte würde hineinziehen. Und wohlmöglich würde mich der Mann gar nicht hören und mein Zimmer würde völlig umsonst auskühlen. Und so bleibe ich einfach sitzen.

Langsam muss ich auch weiter arbeiten und so konzentriere ich mich auf meinen Bildschirm.
Nach 15 Minuten wage ich meinen Blick erneut hinaus. Den Hund kann ich noch herumtollen sehen, den Mann nicht mehr. Aber was ist das? In den Wellen schwimmt eine gelbe Regenjacke, ich kann sie verschwommen erkennen.
Ich lehne mich zurück und nehme einen tiefen Schluck aus meiner Tasse.

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Samstag, 26. Januar 2008
Ein Neuanfang nach dem Regen
Er saß an seinem Schreibtisch und blickte betrübt nach draußen. Die Sonne wurde von einem riesigen Wolkenturm verdeckt, der all das Licht dieses Sternes einzusaugen schien. Das Gras hatte in dem fahlen Licht seine kräftigen und leuchtenden Farben verloren und bot auf seiner grauen Fläche viel Platz für braune Pfützen. Die Sicht war nicht weit und so sah er das Meer nur in seinen Gedanken, sah es getaucht in goldenes Licht, sah es mit sanften Wellen den Strand streicheln. Fühlte das kühle Nass, welches seinen müden Füße nach einer langen Wanderung zu neuer Stärke verhalf. Das Gekreische der Möwen füllte seine Ohren und war nimmer mehr ein ohrenbetäubendes, nervtötendes Geräusch. Vielmehr schien es von Freiheit nur so zu protzen. Er lauschte diesem Spiel der Vögel, vermischt mit dem sanften rauschen des unendlich großen Ozeans. Er spürte das Salz auf seinen Lippen, wie es diese austrocknete und auf der Haut zu kribbeln begann. Seine Zunge befeuchtete die trockene Haut wohltuend und ließ ihn diesen unvergleichlichen Geschmack des Meeres schmecken. Er tanzte, er frohlockte und war einfach glücklick. Glücklich darüber zu leben, einfach zu sein.
Er öffnete seine Augen und erblickte einen Regenbogen in allen Farben, die Luft schien durch den Regen wie gereinigt. Das Gras gläntzte als wäre es frisch poliert worden und der Nebel hatte sich verzogen. Es hatte etwas neues begonnen!

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Montag, 21. Januar 2008
Der Sinn des Lebens
Ein Blick aus dem Fenster. Leere, unheimliche Leere, welche ihm auf die Seele drückt. Kein Windhauch ist zu sehen, die Bäume, dunkle Gestalten in der Dämmerung. Der Himmel grau verhangen, kein Sonnenstrahl ist mehr zu sehen. Die Welt verschwindet in der Dunkelheit, die alles mit sich reißt. Warum sich wehren? Die Zeit kommt und geht. Was ist schon ein Leben? Eine hundertstel Sekunde im Strom der Zeit. Stetig fließend, niemals anhaltend, sieht sie die Menschen kommen und gehen. Riesige Königreiche, vor Macht strotzend, doch nichts währt ewig. Im nächsten Moment stürzt alles in sich zusammen wie ein Kartenhaus von der Hand des Windes berührt. Warum leben, wenn man irgendwann einsam stirbt und wieder ein Teil der Erde wird? Eins wird mit der Natur. Vergessen von den Menschen, als hätte man nie existiert? Welchen Sinn hat das Leben eines einzelnen Menschen? Das Leben eines einzelnen, unbedeutenden Menschen?

Eine Hand, eine warme Hand berührt seine Schulter, reißt ihn fort aus den dunklen Gedanken. Erhellt seine Seele, gibt ihm neue Hoffnung. Wir leben, um für einander da zu sein. Um uns Geborgenheit zu schenken, Wärme zu geben.
Ein Lächeln fährt über sein Gesicht und er schließt seine Frau langsam in seine Arme.
Wie ist das Leben schön.

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Montag, 21. Januar 2008
Der Wunsch nach Stille
Sie starrt aus dem Fenster in die Dunkelheit. Regentropfen trommeln gegen die Scheibe und Blitze erhellen die Gegend. Die Trauer hat sich fest auf ihre Seele gelegt und schnürt sie so zu, dass es wehtut. Das Trommeln der Tropfen, das Licht der Blitze. Unwirklich die Welt auf sie wirkt und sie ganz klein. Sie starrt auf die Straße, spärlich beleuchtet von einer flackernden Straßenlaterne. Kalt, alles kalt. Sie fühlt, wie sie der Schmerz übermannt, sie kann ihm nicht widerstehen. Den Kopf gegen die kalte Scheibe gepresst. Verzweiflung. Was sollte sie tun? Sie ist allein, völlig allein. Verlassen, gehasst und nicht erwünscht. Tränen, sanft kullern sie ihre Wange herab, herab auf den Boden. Schweigende Tränen, denn niemand ist da, um sie zu trösten. Es gibt niemanden auf der Welt, der weiß wie schlecht es ihr geht. Der Tod. Langsam nähert sich seine knochige Hand. Warum nicht? Konnte es so viel schlimmer sein? War es nicht die Lösung aller Probleme? Verlassen und allein, der Schmerz tief eingebrannt. Verzweiflung. Wie sollte sie es schaffen? Sie ist doch völlig hilflos. Hämmern, immer heftiger. Eine Stimme in ihrem Kopf, eine grässliche Stimme, die den Tod verkündet. Ein Schreien, das durch Mark und Bein geht, und das heißeste Blut zum Erstarren zwingt. Lauter immer lauter. Das Fenster, es öffnet sich langsam, wie von Geisterhand. Kälte, diese ungeheure Kälte! Regen peitscht ihr ins Gesicht. Aber die Stimme sie will nicht aufhören! Aber sie muss doch! Sie hält es nicht mehr aus, will die Ruhe, die absolute Ruhe und springt.
Ein leichter Windhauch ihre Haare streichelt. Ruhe.

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Samstag, 19. Januar 2008
Die Chinesen
„Und wieder einen Tag erfolgreich, sogar sehr erfolgreich hinter mich gebracht“. Stolz blickte er auf seinen makellos aufgeräumten Schreibtisch in einem geräumigen Büroraum. Er nahm seine lederne Tasche vom Boden und machte sich auf den Heimweg. Er war der letzte, der den riesigen Verwaltungskomplex verließ, der Parkplatz war leer, nur ein dunkler Porsche stand allein in der Mitte. Die Straßen waren frei, fast kein Auto fuhr um diese Uhrzeit noch in der Stadt herum.
Morgen würde wieder ein anstrengender Tag sein, denn die chinesischen Geschäftsleute würden da sein, um die Firma zu übernehmen. Eine Menge Arbeitsplätze standen auf dem Spiel, das war ihm aber relativ egal, er würde weiter beschäftigt werden, er war ja in der Verwaltung und er war ein guter, zuverlässiger Mitarbeiter. Er bog in eine Straße ein, in der ein Haus sauberer, gepflegter, als das andere war. Die Einfahrt war in das silbrige Licht des Mondes getaucht, das Garagentor öffnete sich automatisch. Wie würde er das Gespräch angehen? Was für Charaktere waren diese Chinesen? Würden sie zugänglich sein? Er runzelte die Stirn. Es ging um eine Menge Geld, das wusste er. Vielleicht würden sie ihn aber ja auch entlassen und eine Abfindung bezahlen? Im ersten Moment erfüllte ihn dieser Gedanke mit Freude, dann erstarrte er. So jung in Rente (er war 57)? Was sollte er daheim machen? Den ganzen Tag herumsitzen? Fernsehgucken? Er runzelte die Stirn. Nein, das würden sie nicht tun. Das Garagentor schloss sich wieder. Er drehte den Schlüssel im Schloss herum. „Wo warst du? Weißt du, wie spät es ist?“. Im Flur stand eine Frau im Nachthemd, sie war dünn und hatte viele Falten, viel zu viele für ihr Alter. „Ja es ist heute etwas später geworden, Schatz. Du weißt doch, die Chinesen.“ Er lief an ihr vorbei, geradeaus in die Küche. „Was gibt’s zu essen?“. Die Frau starrte ihren Mann irritiert an. „Ich wärm dir was auf, ich habe schon gegessen.“ Sie öffnete den Kühlschrank langsam. Warum, warum machst du das noch alles mit? Sie schaltete den Herd ein. Es gab Spagetti mit einer Spinatsoße. Der Mann verzog das Gesicht. „Da arbeitet man den ganzen Tag und bekommt dann abends nur so einen Fraß vorgelegt. Ich will Fleisch“ Sie verlor die Fassung, dieser Mann machte sie verrückt. Woher nahm er das Recht, Forderungen zu stellen, sie zu kritisieren, sie. „Dann esse nichts! Ich hätte jetzt nicht aufstehen und dir dein Essen machen müssen.“ „Ist ja schon gut, ich hätte es mir halt gewünscht.“ Eine peinliche Stille trat ein. Dann war das Mahl gerichtet. „Willst du Käse?“. Nervös kaute sie an einem Fingernagel. „Nein danke“. Wie er aß, wie er so viel in seinen Mund stopfte, wie er immer fetter wurde. Als er seinen vierten Teller gegessen hatte, blickte sie angewidert auf den Boden. „Ich gehe schlafen, muss morgen früh aufstehen, du weißt ja, die Chinesen.“ Er schlurfte langsam ins Schlafzimmer. Sie stützte sich mit ihren Armen auf den Tisch, eine Träne lief ihre Wangen runter. Jeden Abend, diese Tortur, jeden Abend. Wie konnte sie einmal so glücklich mit diesem Mann gewesen sein. Wie nur? Sie hatte das Gefühl, das er mit seiner Arbeit und nicht mit ihr verheiratet sei. Sie lebten nur noch neben und nicht mehr miteinander. Sie hatte wegen ihm vor Jahren die Stadt verlassen. um hierher zu ziehen, wo er eine neue Karriere starten wollte. Sie hatte ihr Leben für ihn aufgegeben. Doch Freunde hatte sie hier nie gefunden, sie war einsam und seit ihr Mann erst nach Mitternacht heimkam, war sie depressiv. Zwischen ihnen war nichts mehr, keine Zärtlichkeiten keine Liebe. Wie konnte sie nur so Leben, sie verwelkte wie eine Blume, der kein Wasser gegeben wird und langsam verdorrt. Sie atmete tief durch und stand auf, um auch schlafen zu gehen. Warum eigentlich? Was wartet morgen auf dich? Diese Gedanken hatte sie Tag ein Tag aus. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr lebe, sondern nur noch funktioniere. Putzen, einkaufen, mit nichts anderem verbrachte sie ihren Tag. Kinder hatte sie keine, ihr Mann wollte nie welche. Jetzt war sie 58 und einsam, allein, im Stich gelassen. Als sie das Schlafzimmer betrat, vernahm sie schon das tiefe Schnarchen ihres Mannes. Sie stopfte sich Ohropax in die Ohren und schlief über vieles nachdenkend irgendwann ein. Aber sie wusste, dass sie es tun musste.

Ihr Wecker klingelte um sechs. Jetzt würde sie aufstehen, Kaffee kochen, ein Spiegelei braten und dann ihren Mann aufwecken, wie jeden Tag. Es war Routine, reinste Routine. Aber dieses Wort, ihre Liebe war Routine geworden. Wütend zerschlug sie das Ei über der Pfanne. Wie konnte es nur so weit kommen? „Gib mir mal Salz und Pfeffer, hast wieder mal zu lasch gewürzt.“ „Ich habe eine Frage an dich.“ „Stell sie ruhig, ich höre dir zu.“ Er blickte nicht von seiner Zeitung hoch. Die Aktienkurse standen günstig. „Wann hatten wir zwei das letzte mal einen glücklichen Moment? Erinnerst du dich noch?“ Sie blickte ihn fragend und bittend zu gleich an. Wenn sie noch ein bisschen steigen würde, dann wäre das das Jahreshoch, dann musste er verkaufen. „Schatz?“ Und dann stand einem neuen Wagen nichts im Wege. „ICH SPRECHE MIT DIR!“. Erschrocken blickte er seine Frau an. „Was schreist du denn so?“. Sie strich sich so fest durch das Haar, das es ihr fast weh tat. „Wann haben wir das letzte mal einen glücklichen Moment erlebt? Ich kann mich nämlich nicht erinnern“, sagte sie mit übertriebener Ruhe. „Nun ja, mir fallen viele ein.“ Er dachte angestrengt nach. „Als ich die von meiner letzten Beförderung erzählt habe, wie du damals gestrahlt hast.“ Er packte hastig seine Tasche und eilte zur Haustür. „Ich muss jetzt wirklich los, du weißt ja, die Chinesen.“ Er schlug die Tür zu. Die letzte Beförderung, na klar. Der dümmste Mensch auf Erden hätte damals erkannt, dass ihre Fröhlichkeit nur gespielt war, sie in Wirklichkeit aber gewusst hatte, dass das bedeutete, dass ihr Mann nun noch länger arbeiten müsse. Sie saß fünf Minuten einfach nur schweigend da. Noch so einen Tag wollte sich nicht erleben, es war jetzt langsam mal genug. Sie wusste, dass sie ihren Mann nicht mehr liebte, sie wollte hier endlich weg sein. Morgen war Samstag, er würde mit seinen Kumpels wieder zum Fischen fahren, saufen, und was wusste sie noch alles. Es war genug, sie konnte nicht mehr, sie wollte nicht mehr so leben, wie sie es jetzt tat. Sie wollte fliehen. Fliehen aus ihrem Leben, von ihrem Mann, von ihrem Alltag. Das war es doch alles nicht mehr wert. Er war es nicht mehr wert. Sie packte ihre Sachen, packte nur das nötigste ein, sie würde wegfahren, weit weg, dorthin, wo sie ein neues Leben anfangen könne, vielleicht noch mal mit einem anderen Mann glücklich werden könne. Sie setzte sich ins Auto und fuhr, fuhr einfach darauf los, nicht wissend, wo sie hinkommen werde.

Er blickte stolz auf den unterschriebenen Vertrag. Das war sein Verdienst, seiner ganz allein. Er lief zu seinem dunklen Porsche, der allein auf dem riesigen Parkplatz stand. Bald würde er einen eigenen Parkplatz haben, da war er sich sicher. Er sah seinen Wagen verträumt an. Bald bekommst du einen Bruder. Was hältst du von einem Jaguar. Na? Er lachte und fuhr los. Hoffentlich gibt es heute was gescheites zu essen. Wütend dachte er an seine Frau. Wie konnte man ihm nur so was wie gestern vorsetzen? Wie konnte man nur? Er fuhr in die Einfahrt. Er erschrak. Wo war der Wagen seiner Frau? Na klar. Sie war beim Einkaufen wieder mal an irgendein Schild gefahren und der Wagen war in der Werkstatt. Und von was wurde die Reparatur bezahlt? Natürlich von seinem Geld, von seinem hart verdienten Geld. Er schloss die Haustür auf. Alles war dunkel. Er roch kein Essen. „Schatz?“, er blickte unsicher umher. Dann wusste er was los war, es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Was hatte er nur getan, warum hatte er es so weit getrieben. Würde sie wieder zurückkommen? Er brauchte sie doch, das wusste er. Die Gedanken fuhren in seinem Kopf, wie ein Karussell. Dann wurde es auf einmal still in seinem Kopf. Und nur ein Gedanke beschäftigte ihn: die Chinesen.

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